Demokratie - ein institutionelles Hindernis?
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Schäuble am 17. April 2015 vor dem jüdischen "Brookings Institute"
in Washington:
Reformpläne der Wall-Street in Europa ohne Demokratie, sondern mit Zwang,
wie bei Spanien, durchsetzen. |
"Paris empört sich über Schäuble - 'Unerträgliche und inakzeptable Frankreich-Feindlichkeit'" titelt
die F.A.Z. am 18. April. Der Bericht zitiert Äußerungen des deutschen Ministers, in Frankreich wünschten
sich ranghohe Regierungsvertreter, ihr Parlament würde zu strukturellen Reformen gezwungen. Bei näherem
Zusehen geht es bei diesem Vorgang nicht in erster Linie um Schäubles Haltung zu Frankreich, sondern
zur
Staatsform Demokratie. Schäuble äußert hier nämlich als ranghoher Vertreter unserer Exekutive in aller
Öffentlichkeit Zweifel am Parlamentarismus und am demokratischen Regierungssystem. Das ist
"unerträglich" und "inakzeptabel".
Der Minister spricht darüber, inwieweit institutionelle Rahmenbedingungen (wie Parlamentarismus und Demokratie)
Entscheidungen über strukturelle Reformen erleichtern oder erschweren. Als erfolgreiches vergangenes Beispiel
nennt er Spanien, wo die Wirtschaftsreformen durch die Troika "erzwungen" worden seien:
"Spain was by the
way forced (sic!) by the institutions." Diesen Gedankengang überträgt er aufs gegenwärtige Frankreich und sagt:
"Frankreich wäre glücklich, könnte jemand das Parlament zwingen, ... aber da ist die Demokratie ... Es ist
schwer, was durchzukriegen ..." ("France would be happy if someone could force (sic!) the parliamentary, ...
but (sic!) it's democracy ... It's difficult to get..."). Die Kernaussage (eingekleidet in Aussagen Dritter)
lautet: Eigentlich sind strukturelle Reformen notwendig - aber dem stehen Demokratie und parlamentarische
Entscheidungsprozesse im Wege.
Zu diesem Demokratieverständnis ist zweierlei anzumerken: Erstens: Hier
äußert sich ein amtierender Minister - ein Vertreter der Exekutivspitze -
zweifelnd über die Gewalt, der er selbst untersteht - nämlich die Legislative -,
und damit den Souverän - nämlich das Volk -, das dieses Parlament und seine
Mehrheiten demokratisch bestimmt. Die Aussage Schäubles ist im Kern
demokratieskeptisch. Er sympathisiert - das wird an dem
zweimaligen durchaus befürwortenden Gebrauch des Wortes "forced" (also "gezwungen") deutlich -
mit einem Zwang, der eine von ihm als
alternativlos erachtete politische Regierungsmaßnahme der freien Willensbildung des Parlaments und des Volkes
entzieht und damit politisch durchsetzt. Man fühlt sich erinnert an Bertolt Brechts Spruch anlässlich der
Niederschlagung des Aufstandes vom 17. Juni in der DDR: "Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste
das Volk auf und wählte ein anderes?" Schäuble spricht über Spanien und Frankreich - aber sollte seine Haltung
zum deutschen demokratischen Regierungssystem nennenswert abweichen?
Zweitens: Wann hört endlich die Unsitte auf, dass amtierende Politiker sich in Medien und öffentlich innerhalb wie
außerhalb ihres Kompetenzbereiches verbreiten? Sollten sie nicht einfach ordentlich und entsprechend ihrer Rolle
im Gewaltenteilungssystem ihre Arbeit tun und darüber die Öffentlichkeit informieren? Niemand kann und will
Wolfgang Schäuble eine bejahende Auffassung von Demokratie aufzwingen. Niemand kann und will ihm verbieten,
sich über Grenzen demokratischer Willensbildung und Alternativen zu ihr Gedanken zu machen, darüber zu sprechen
und zu streiten. Aber hier wirft sich ein amtierender Minister -in aller Öffentlichkeit und außerhalb seiner
verfassungsmäßigen Kompetenz - frech und achselzuckend zum Zensor über das System demokratischer Regierungsorganisation
auf. Er zweifelt dabei die Kompetenz der Volksrepräsentation an, der er selbst Unterstellt ist. Das
sollte eigentlich nicht zu demokratischen Spielregeln gehören.
Ist also nicht eher das fehlgeleitete Demokratieverständnis unseres Ministers
"unerträglich" und "inakzeptabel"
als die beanstandete Frankreich-Feindlichkeit?
PROFESSOR DR. ULRICH MÜCKENBERGER, BREMEN
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